Werder (Havel), 23. März 2023 – „Lost Places“, also verlassene Orte, sind geheimnisvoll, manchmal ein bisschen gruselig. Doch auch in Werder gibt es den einen oder anderen Ort, der diesen ganz besonderen Charme versprüht. Im vergangenen Jahr haben der Heimatverein Werder (Havel) e.V. und der Werderpark gemeinsam eine Ausstellung organisiert und insgesamt sechs Gebäude vorgestellt. In unserer kleinen Reihe möchten wir auch Ihnen diese Zeitzeugen aus Stein vorstellen. Welche Geschichten erzählen diese alten Gemäuer? Wofür wurden diese stillen Riesen, die Werders Stadtbild zieren, ursprünglich gebaut? In „Verloren und Vergessen“ unternehmen wir eine Reise in die Vergangenheit, die all diese Fragen und noch ein paar mehr beantworten soll.
Wenn man von den bekannten Werderaner Höhengaststätten spricht, ist meist nur von der Friedrichshöhe, der Bismarckhöhe und der Wachtelburg die Rede. Doch wussten Sie, dass bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine weitere Gaststätte auf 68 Höhenmetern die zahlreichen Gäste der Blütenstadt willkommen hieß?
Heute steht von der ehemaligen Gastwirtschaft „Gerlachshöhe“ nur noch ein Drittel des ursprünglichen Gebäudes. Wo einst die Gäste Getränke und Speisen auf einer großzügigen Terrasse mit Panoramablick genossen, picken heute Hühner Körner von dem grasigen Boden und gackern fröhlich in ihrem großzügigen Domizil. Der frühere Aussichtsturm steht nicht mehr. Bei einem Rundgang durch die alten Gemäuer lässt sich der Charme der einstigen Höhengaststätte nur erahnen.
Ihren Namen verdankt die Gerlachshöhe Ferdinand August Gerlach, der 1874 im Besitz des Areals war. Zuvor kam der Rathmann und Weinberg-
besitzer Daniel Friedrich Wehenberg im Jahr 1859 in den Besitz des Grundstückes, das sich in einem Streifen von der Eisenbahnstraße bis zum Hohen Weg zog. Damals trug das Grundstück die Bezeichnung „Acker auf dem Kesselberg“. 1871 wurde es an den Weinbergbesitzer Friedrich Thun verkauft, zwei Jahre später wechselte es erneut den Eigentümer und ging an die Werdersche Brauerei AG. 1874 kaufte der Rentner Ferdinand August Gerlach das Grundstück und überließ es 1876 seinem Sohn Carl Gerlach.
Ferdinand August Gerlach errichtete hier, im Hohen Weg 69 zwischen dem Marienweg und der Carmenstraße, die Höhe und das dahinterliegende Gerlachshäuschen. Es sollte der Alterssitz für Ferdinand Gerlach und seine Frau werden. Im Jahr 1889 übernahm Friederike Kohlschütter die Immobilie, die sie ab 1900 als Gastwirtschaft betrieb. Ab dem Jahr 1912 lief die Gastwirtschaft unter dem neuen Namen „Hindenburghöhe“ und wurde von Katharina Richter und Wilhelm Lüsch betrieben. Sie ergänzten das Gastronomie-Angebot um eine Pensionswirtschaft. Da der Name von den Werderanern jedoch nicht angenommen wurde, wurde er wieder in „Gerlachshöhe“ geändert.
Doch die Konkurrenz von Bismarckhöhe und Friedrichshöhe war auf Dauer zu groß und so war bereits Mitte der 1920er-Jahre Schluss für die Gastwirtschaft „Gerlachshöhe“. 1923 kaufte der Ministerialrat Dr. Otto Jöhlinger das Anwesen, 1938 wurde er enteignet und in den 1990er Jahren wurde das Grundstück seinem Nachfahren Wolfgang Jöhlinger rückübertragen.
Heute erinnert ein modern renoviertes, mehrstöckiges Gebäude nur noch vage an den einstigen Pensionsbetrieb, der zur Höhengaststätte „Gerlachshöhe“ gehörte. Hinter dem grauen Gebäude, das heute als Wohnhaus genutzt wird, befindet sich ein traumhafter Garten. Inmitten von schattenspendenden Linden und liebevoll angelegten Blumenbeeten thront die Gerlachshöhe im hinteren Teil des Grundstückes. Der neue Besitzer Eik Mellin erzählt, wie er zu diesem historischen Schmuckstück kam.
„In meiner Kindheit verbrachte ich die alljährlichen Ferien bei meinem Großvater, dem ehemaligen Obstzüchter Adolf Kassin. In meiner freien Zeit zog ich mit meinem Cousin durch die Innenstadt von Werder und erkundete alle möglichen Ecken. Unser beider Lieblingsplatz war die Wachtelburg. Das burgähnliche Gemäuer hatte eine bemerkenswerte Faszination. Die Jahre vergingen und 2004, nach meiner Entlassung aus dem Militärdienst, begann ich ein Studium mit Schwerpunkt Medien an der Uni Potsdam. Zu dieser Zeit wohnte ich auf der Insel und war von dem Kleinod gefesselt. 2009 trat dann meine zukünftige Frau in mein Leben, 2011 wurde unser Sohn geboren.
Die Verbundenheit zur Stadt Werder löste bei mir Interesse an der Geschichte alter Gebäude aus. Aufgrund vieler Erzählungen und Dokumente von meinem Großvater begann ich, eine Internet-
seite ins Leben zu rufen, um dort interessante Informationen für die Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Ein Thema war unter anderem die Wachtelburg, die ich aus meiner Kindheit sehr gut kannte. Es folgten Berichte über die Bismarckhöhe, Friedrichshöhe und Gerlachshöhe.
Letztere machte es mir jedoch nicht gerade leicht. Informationen waren rar gesät und viele Quellen waren nicht verlässlich oder gar lückenhaft. Nicht ganz zufrieden veröffentlichte ich den Bericht im Internet und stellte noch ein paar mehr oder weniger aussagekräftige Bilder ein. Daraufhin bekam ich einige Zeit später eine E-Mail eines betagten Herrn, der sich auf den Beitrag bezog.
Etwas verunsichert, ob der Richtigkeit der gemachten Angaben, ignorierte ich zunächst die Anfrage des damals 92-Jährigen aus Aachen. Er hatte angeboten, mir Bildmaterial zu schicken, und er stellte einige Sachverhalte richtig. Über ein halbes Jahr lang tauschten wir unsere Familiengeschichten aus. Wir schickten uns E-Mails, Briefe mit Chroniken, Bilder und Kartenmaterial und wir verabredeten uns zu einer Besichtigung der Gerlachshöhe im Frühjahr 2014. Am Tag der Besichtigung hatte ich ausreichend Zeit, Fotos von dem baufälligen Gebäude zu machen. Leider gelang es uns kaum, ins Innere des einstigen Ausflugslokals zu gelangen. Sehr beeindruckt von dem doch unbekannten Gebäude wollte ich mich für die Möglichkeit der Besichtigung bedanken, als mich der ältere Herr beiseite nahm.
Sein Besuch war als Abschied gedacht, da er das gesamte Grundstück veräußern möchte. Aufgrund unserer Annäherung und dem Wissen über das vorhandene Interesse an der Geschichte, würde er mir das Objekt gern zum Kauf anbieten. Bei mir wisse er sein Erbe in guten Händen. Ich war natürlich erstmal völlig verblüfft und entgegnete, dass das doch ein Vermögen kosten müsse bei der vorhandenen Größe. Doch dieses Schmuckstück konnte ich mir nicht entgehen lassen! Ich hatte daraufhin gut ein Jahr Zeit, um die Finanzierung auf die Beine zu stellen und im Oktober 2014 war es dann soweit. Die Gerlachshöhe wechselte den Besitzer und wurde unser Eigentum.
Bis 2017 versuchte ich, den Kontakt zu Wolfgang Jöhlinger (dem betagten Herrn) zu halten, der aber nie auf meine Anfragen reagierte. Er hatte mit der Gerlachshöhe im März 2014 seinen Frieden gemacht. Wolfgang Jöhlinger verstarb im Juni 2017 kurz vor seinem 96. Geburtstag.“
Heute blickt Eik Mellin stolz auf „seine“ Gerlachshöhe, die er nach historischem Vorbild saniert: „Die Gerlachshöhe soll einmal genauso schön werden, wie früher. Mir ist es wichtig, dass dieses regionale Kulturgut für die Zukunft gesichert wird.“ (wsw)

