Werder (Havel)/Sapporo, 16. August 2021 – Es gab wahrscheinlich nur wenige Werderaner, die am 5. August ab 9.30 Uhr nicht in Gedanken oder vor dem Fernseher bei den Olympischen Spielen in Tokio mitgefiebert haben. Zu dieser Zeit startete der Werderaner Geher Christopher Linke die 20 Kilometer Distanz. 20 Kilometer … das ist in etwa so weit, als würde man vom Märkischen Golfclub in Kemnitz bis zum Filmpark Babelsberg laufen. Google Maps gibt für diese Entfernung zu Fuß knappe vier Stunden an. Christopher Linke hat die 20 Kilometer in beeindruckenden 1:21:50 geschafft. Wir haben den 32-Jährigen zwei Tage nach seiner Ankunft in Deutschland am Telefon erwischt.
Christopher, herzlichen Glückwunsch zu deinem großartigen Olympia-Erfolg! Wie geht es dir gerade?
Vielen Dank! Ich habe noch etwas mit der Zeitverschiebung zu kämpfen. Es war eine sehr lange Rückreise, von Haustür zu Haustür hat es knapp 24 Stunden gedauert. Ich habe die letzten Tage in Tokio auch nicht sehr viel geschlafen und als ich gestern Abend nach einer Stunde Schlaf hier zu Hause aufgewacht bin, musste ich mich erstmal sortieren, da ich nicht genau wusste, wo ich bin.
(Nicht nur) ganz Werder freut sich über deinen fünften Platz. Wie ist dein Olympia-Fazit?
Der fünfte Platz ist wirklich ein super Ergebnis, keine Frage! Aber von fünften Plätzen in Wettkämpfen habe ich bereits sehr viele. Ich bin einerseits zufrieden, aber erneut so knapp an einer Medaille vorbei geschlittert zu sein, ist natürlich nicht schön. Ich glaube ich bin einer der konstantesten Viert- bzw. Fünftplatzierten. Und auch wenn ich im Vorfeld gedacht habe, ein Platz unter den Top Acht bei Olympia ist bereits ein großer Erfolg, wünscht man sich ja doch insgeheim immer mehr.
Erzählst du uns etwas über deine Wettkampfvorbereitung?
Durch die Corona-Pandemie sind viele Wettkämpfe ausgefallen, die mir unglaublich gefehlt haben. Man trainiert einfach anders, wenn kein Wettkampf unmittelbar bevorsteht. Die anderthalbjährige Wettkampfpause zwischen Oktober 2019 und April 2021 war sehr hart. Bei den Deutschen Gehermeisterschaften in diesem Frühjahr bin ich nur dritter geworden, im Mai folgten dann die European Race Walking Team Championships, bei denen ich wieder gegen einen anderen Deutschen verloren habe. Das gab es seit dem Beginn meiner Karriere nicht.
Da gehen einem schon Gedanken durch den Kopf, ob man vielleicht langsam zu alt für den Spitzensport ist. Irgendwann ist es halt der Fall, dass man selbst den Willen hat zu siegen und hart trainiert, aber der eigene Körper bremst einen dann. Und so bin ich in die Olympiasaison gestartet – die Erwartungen waren also etwas getrübt. Mit der unmittelbaren Trainingsvorbereitung habe ich im Oktober 2020 angefangen, seitdem hatte ich keine Woche mehr frei. Die direkte Vorbereitung für Olympia begann etwa 8-10 Wochen zuvor.
Wie war der Wettkampf für dich?
Mir persönlich ist es nicht so wichtig, zu Beginn weit vorne zu stehen. Ich gucke eher, wer hinter mir steht, damit mir nicht beim Start die Schuhe von den Füßen getreten werden. Ich glaube nach der Hälfte der Distanz war ich ungefähr 20. Es spielt aber keine große Rolle, wo genau man im Pulk ist. Ich hätte auch gedacht, dass es langsamer losgeht, vor allem wegen des Klimas. Dass es dann doch von Beginn an gleich schnell losging, hat mich etwas überrascht. Es haben sich alle gut auf die schwierigen Bedingungen vorbereitet. Der fünfte Platz ist natürlich trotzdem ein tolles Ergebnis. Aber dass mein Traum einer Medaille erneut nicht erfüllt wurde, trübt mein Olympia-Fazit etwas. Aber mich freut natürlich, dass so viele mitgefiebert und mich unterstützt haben und mich so viele Glückwünsche im Nachhinein erreicht haben, auch von Personen, mit denen ich seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr hatte. Doch das ist gerade das tolle an Olympia: selbst der größte Sportmuffel schaut sich die Wettkämpfe gerne an.
Wie lange brauchst du nach einem Wettkampf für die Regeneration?
Ich brauche etwa ein bis zwei Tage, um mich körperlich zu erholen. Ich hatte auch keinen Muskelkater danach. Doch mental ist so ein Wettkampf eine enorme Belastung, da er mit vielen Qualen verbunden ist. Da müssen die Speicher der mentalen Stärke erstmal wieder aufgefüllt werden. Am Ende ist es immer ein Kampf mit sich selbst: Wie sehr möchte ich den Erfolg? Der eine gibt früher auf, der andere später. Wenn die Unterstützung durch Anfeuerung der Zuschauer von außen kommt, muss man sich nicht selbst motivieren. Doch wenn man die nicht hat, ist es noch schwieriger durchzuhalten. Ich habe zum Glück einen tollen Mental-Coach an meiner Seite, der mir viele Tipps gibt.
Wie geht es jetzt weiter?
Offiziell habe ich noch Saisonpause, aber ich bespreche mich zeitnah mit meinem Trainer, wie es jetzt weitergeht. Eventuell stehen noch zwei Wettkämpfe in diesem Jahr an, aber genau steht das noch nicht fest. Auf jeden Fall möchte ich eine Woche mit meiner Freundin in den Urlaub fahren. Und dann steht natürlich Olympia 2024 noch auf meinem Plan. Das wird vielleicht meine letzte Gelegenheit sein, eine Olympia-Medaille zu ergattern. Und bis dahin gibt es noch viele weitere hochklassige Wettkämpfe. Übrigens: Olympia 2024 findet in Paris statt! Das ist im Vergleich zu Tokio 2020, Los Angeles 2028 oder Brisbane 2032 ja fast ein Katzensprung und vielleicht auch für Werderaner Sportfreunde eine Chance, einmal Olympia-Luft zu schnuppern.
(wsw)